Haus des Kindes

Matthes & Seitz, Friedenauer Presse, Berlin, 2021

Eine literarische Spurensuche im Herzen Ost-Berlins.
Das von Hermann Henselmann als Wohn- und Kinderkaufhaus konzipierte Haus des Kindes befand sich am Eingang zur damaligen Stalinallee. Das dortige Leben ist der Ausgangs- und Kristallisationspunkt eines episodenhaften erzählten Romans, der vor dem 17. Juni 19533 beginnt und 1965 endet. Helga Kurzchalia hat mit „Haus des Kindes“ eine literarische Spurensuche geschaffen, die dokumentarische Genauigkeit mit erzählerischer Originalität verbindet.

“Das “Haus des Kindes” am Strausberger Platz war eine gebaute Utopie der noch sehr jungen DDR. Die Entwürfe des kombinierten Kinderkaufhauses mit den darüber liegenden modernen Wohnungen stammten von Hermann Henselmann, einem der Stararchitekten Ostdeutschlands, der mit dem Haus des Lehrers, der Kongresshalle am Alexanderplatz und dem Ost-Berliner Fernsehturm Architekturikonen der sozialistischen Nachkriegsmoderne schuf. Er wohnte selbst mit seiner Frau Irene und den acht Kindern in “seinem” Haus, eine Etage über der fünfjährigen Helga, deren Eltern gleichfalls zum sogenannten “roten Adel” gehörten. Zunächst scheint alles eitel Sonnenschein unter den ehemaligen Westemigranten, KZ-Häftlingen, Spanienkämpfern, aber im Laufe der Fünfzigerjahre werden die Risse sowohl innerhalb der Hausgemeinschaft als auch zwischen propagiertem sozialistischen Ideal und Lebensrealität der meisten immer deutlicher sichtbar. …Dabei spricht sie (die Autorin) vieles an, was in der DDR ein Tabu war und in der Öffentlichkeit totgeschwiegen wurde, weil die ganze verwickelte, komplizierte Lebenswirklichkeit in der Erzählung vom Aufbau des Sozialismus und der Erschaffung des neuen Menschen keinen Platz hatte und haben durfte. Ein kleines, leises, behutsames Buch, das eine große Wirkung entfaltet.”

 

    • Bettina Hartz. FAS Nr. 37, 18. September 2022, Feuilleton Seite 38

Lamaras Briefe

Lichtig Verlag, Berlin, 2010
Siesta Publishers, Tbilissi, 2014

“Mit Lamara gelingt der Autorin eine außergewöhnlich starke Protagonistin, die in einer Mischung aus Humor, Fatalismus und Lebensbejahung gegen die wachsende innere und äußere Entfernung zwischen sich und den Verwandten in Deutschland anschreibt. Ein Kunstgriff, der dem deutschen Leser nicht nur erlaubt, eine georgische Sicht kennenzulernen, sondern auch Deutschland „mit fremden Augen“ zu betrachten”   (György Dalos, Berlin)

“Helga Kurzchalia erzählt in ihrem Briefroman eine deutsch-georgische Familiengeschichte. In den Jahren 1984 bis 1995 geraten alle Beteiligten in den Strudel der Geschichte. Briefe, wie die von und an Lamara, die zwischen dem ähnlich und doch sehr unterschiedlichen Sowjet-Georgien und der DDR (später BRD) hin- und hergehen, ermöglichen dem Leser einen überraschend lebendigen und facettenreichen Einblick in ein Leben, das für Nachgeborene oder Außenstehende, die den Untergang des Ostblocks und die Wechselfälle jener Zeit nicht aus eigener biografischer Erfahrung kennen, heute oft nur noch schwer nachvollziebar ist”   (Lasha Bakradze, Tbilissi)

HIER 2001-2004

Veenman Publishers (Rotterdam), 2007
Idee und Konzept: Ulrike Brückner und Helga Kurzchalia Texte und Interviews: Helga Kurzchalia
Gestaltung: Ulrike Brückner
Fotos: Angelika Barz

HIER ist ein Buch, das das heutige Deutschland von seinen Grenzen aus beschreibt. Wer sind wir? Wer sind die anderen? Was trennt? Was verbindet? Was wird als fremd, was als eigenes erlebt? Für HIER habe ich mit 43 Menschen gesprochen. Meine Gesprächspartner waren Arbeitslose und Unternehmer, Künstler, Arbeiter und Angestellte, Schüler und Rentner. Manche lebten seit Generationen am Ort, manche waren wegen der Arbeit oder aus Liebe hergezogen, andere als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Die Jüngste war zwölf, die Älteste 78 Jahre alt. Als Autorin und Psychologin interessierte mich der Zusammenhang von „großer“ Geschichte und „kleinen“ Lebensgeschichten, von politischen Ereignissen und persönlicher Biographie. Was wird erinnert, was vergessen, was banalisiert, was aufgebauscht. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden behauptet. Welche Wirklichkeiten werden konstruiert, wenn es um Grenzen und Identität oder Heimat geht.

“Ein abschließendes Buch darüber zu schreiben, wer die Deutschen sind, dürfte schier unmöglich sein. Ihre Lebenswelt mit Gesprächsprotokollen und Fotos zu archivieren, ist dagegen machbar. Drei Frauen haben eine wundervoll experimentelle Akte über die Deutschen angelegt.”

“Das Merkwürdigste an diesem Buch, das mit 246 Fotos und 44 Geschichten Deutschland beschreibt, ist, dass ein holländischer Verlag es herausbringt.”

Im Halbschlaf

Rotbuch Verlag, Hamburg, 2000

So lange sie sich zurückerinnern kann, hat es sie stets an einen anderen Ort gezogen, in ein anderes Land. Zu lange hatte die Erzählerin in der DDR ein Gefühl von Nichtdazugehörigkeit, von Nichtverankertsein. Angesichts der Übermächtigkeit der Vergangenheit und den Einschränkungen der Gegenwart scheint sie wie im Halbschlaf gefangen. Als sie mit ihrem Mann in die Sowjetunion zieht, um der DDR-Enge zu entfliehen, bemerkt sie, welch große Kraft es sie gekostet hat, immer und überall diesen Abstand zu wahren. Sie beschreibt, wie durch die Ausbürgerung von Wolf Biermann und die Reaktionen ihrer Freunde darauf ihr Leben in Berlin wieder näherrückt. Am Ende, zurückgekehrt nach Berlin, erlebt sie eine noch bedrückendere Enge, die fast zur Erstarrung führt. In der Klinik betreut sie ein Kind, das – ähnlich wie sie – abgekapselt in seiner eigenen Welt lebt.

“In Sachen DDR und Vergangenheitsbewältigung sind wir schon in der Ära der schenkelklopfenden Sprüche angekommen, meint Susanne Messmer und vermutet, dass es darum das Büchlein (ein Debüt) der 52jährigen Autorin schwer haben könnte. Ein “altmodisches Buch” nennt sie den Roman, der einfach nichts Auffälliges, Spektakuläres an sich habe. Auch die Periode, die sich Kurzchalia vorgeknöpft habe, die Zeit nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns, sei absolut unzeitgemäß, schreibt Messmer. Aber wie Kurzchalia diese Phase beschreibt, hat für Messmer etwas Besonderes: Sie beschreibt sie nämlich aus der Sicht eines weiblichen Oblomow, der seine Zeit in der Bauakademie verdämmert. Infolge der Ausweisung ergreife auch andere Personen im Land die Depression, aber die Protagonistin habe am Ende so viel Energie, dass sie beginnt, in der Psychiatrie zu arbeiten. Ihr erster Fall sei dort, sagt Messmer, ein Mädchen, das mit offenen Augen schlafe. Für Messmer trotz mancher Manierismen ein wunderschönes Buch, das die Stimmung jener fast vergessenen Jahre beeindruckend einfängt.”